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Yoga & Trauma


Jeder dritte bis vierte Mensch erlebt im Laufe seines Lebens ein Trauma. Traumatisierte Menschen erleben sich selbst oft als in ihrem Körper fremd, beziehungsweise haben einen stark eingeschränkten Kontakt zu ihrem Körper. Traumasensibles Yoga gehört mittlerweile zu den Körpertherapien, die erfolgreich bei traumatischen Erfahrungen eingesetzt werden. Aber kann Yoga an dieser Stelle wirklich heilen? Wann spricht man eigentlich von einem Trauma und wann sollte man sich mit seiner Geschichte befassen? Wie kann ich traumatisierte Menschen in einer Yogaklasse erkennen und wie kann Yogaunterricht traumasensibel gestaltet werden?


Bitta Boerger im Interview über Yoga und Trauma



Wann spricht man von einem Trauma?


Laut WHO ist ein Trauma ein „kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“. Dabei kann sich die Bedrohung auf einen selbst beziehen oder man kann Zeuge einer solchen Bedrohung sein. Wenn eine Situation oder ein Geschehen so überwältigend auf den Betroffenen einwirkt, kann das körperliche oder psychische Auswirkungen haben.


Hier kann man zwischen Mono- und komplexen Trauma unterscheiden. Ein Monotrauma ist eine einmalige Ausnahmesituation, die das Maß an Aufnahme und Verarbeitungskapazität des Organismus übersteigt. Dies können z. B. Krieg, Naturkatastrophe, Unfälle oder Gewalt sein. Komplexe Trauma oder auch Entwicklungstrauma entstehen durch Ereignisse oder Erfahrungen, welche über einen längeren Zeitraum wiederholt auftreten, diese können psychische oder körperliche Gewalt darstellen. Die meisten Entwicklungstraumata entstehen in der frühen Kindheit. Hier sind wir auf unsere Bezugspersonen angewiesen. Mangelnder Kontakt, wenig Bindung und keine Resonanz auf unser Sein untergraben unsere Fähigkeit zu Vertrauen, anstelle dessen entstehen hier schon Mechanismen, um dieser Not zu entfliehen.



Wie kann sich ein Trauma auf das Leben auswirken?


Traumatisiert zu sein kann verschiedenen Auswirkungen mit sich bringen. Generell kann man sagen, dass der Eindruck des Erlebten weiterhin nachwirkt, auch wenn die Situation schon längst vergangen ist. Das kann sich unter anderem in Form von Belastungsstörungen (PTBS), Depression oder Ängsten zeigen. Durch die anhaltende Übererregung des Nervensystems kann es beispielsweise zu Schreckhaftigkeit, Aggressivität, Konzentrationsmangel, Schlafstörungen und Dauererschöpfung kommen. Häufig sind die Betroffenen den belastenden Bildern und Gefühlen durch Wiedererleben ausgesetzt und sogenannte Flashbacks können durch alltägliche Situationen getriggert werden. Das gezielte Vermeiden solcher Trigger bringt Menschen in den sozialen Rückzug und führt oft in ein Leben ausgerichtet auf Planbarkeit, Überschaubarkeit und Minimierung von Reizen.


Ebenso ist auch die sogenannte Dissoziation eine Art Vermeidungs- oder Schutzstrategie. Bei einer dissoziativen Störung spaltet sich die Wahrnehmung von dem was ist und der eigenen Identität ab. Auch das in der Vergangenheit Erlebte wird, temporär oder permanent, von der eigenen Identität gelöst, abgespeichert oder verdrängt. Das kann in der Gegenwart bedeuten, dass Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder Kälteempfinden nicht wahrgenommen werden können. Auch subtilere Empfindungen gehen verloren oder verschieben sich.


Der Zusammenhang von chronischen Schmerzen, dauernder Erschöpfung oder mangelnder Impulskontrolle muss nicht immer auf ein traumatisches Erleben zurückgeführt werden. Doch nicht selten berichten mir Menschen davon, dass sie mit einer Diagnose wie Depression oder einer körperlichen Symptomatik in eine psychosomatische Behandlung eingewiesen wurden und sich nach intensiver Auseinandersetzung ein Trauma als Grundlage der Beschwerden herausgestellt hat.



Was wäre ein Indiz dafür, dass es für mich lohnenswert sein könnte, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen?


Generell gilt für mich der Ansatz: Wenn mir etwas im Weg steht, das verhindert, mich frei und glücklich zu fühlen, lohnt sich die Auseinandersetzung damit. Diese Auseinandersetzung ist nicht immer leicht, aber wir kommen nicht darum herum, wenn wir echte Veränderung bewirken wollen. Wir haben viele Konzepte und Wege, um unsere Ablenkmanöver aufrechtzuerhalten. Auch wenn wir uns über vieles bewusst sind, halten wir dennoch an den schützenden Mustern und Gewohnheiten fest und weichen somit den schmerzhaften Themen aus. Das können wir eine Zeit lang machen, aber das Leben fühlt sich weniger lebendig an, wenn Teile davon weggesperrt, abgetrennt oder ignoriert werden. Der Zeitpunkt und die Geschwindigkeit für die Auseinandersetzung mit intensiven Themen sollte nicht forciert werden. Jeder Mensch hat da sein eigenes Tempo. Je schwerwiegender die Erfahrung, desto mehr Sinn machen die lebenserhaltenden (Verdrängungs-) Mechanismen. Und manch einer hat vielleicht auch nicht die Wahl, sich dem, was war, zu widmen. Sich dem Erlebten und den daraus resultierenden Symptomen zu stellen wäre zu destabilisierend. Dann ist das einzige Ziel halbwegs über die Runden zu kommen und das Leben von Tag zu Tag zu meistern.



Inwiefern spielt der Körper eine große Rolle in der Bewältigung von Traumata?


Die Erfahrungen, die wir mental, emotional oder körperlich erleben, werden im Körper gespeichert. Nicht nur das Gehirn zeigt nachweislich den Einfluss auf bestimmte Gehirnareale durch traumatische Geschehnisse. Auch das Nervensystem reagiert über lange Zeiträume - auch weit über die belastende Situation hinaus. Wenn wir an dieser Stelle eine rein kognitive Therapie wählen, erklären sich möglicherweise viele unserer Verhaltensmuster und Reaktionen. Diese können jedoch nur bedingt beeinflusst werden. Der Körper hat sein eigenes Gedächtnis und hält an den Schutz gebenden Mechanismen fest.



Kannst du noch etwas näher auf das Nervensystem eingehen?


Wie schon erwähnt reagiert der Körper mit einer Art Schutzzustand auf die bedrohliche Situation. Hier werden Körperreaktionen hochgefahren, die für die Situation angemessen sind. „Fight, Flight or Freeze“ sind mögliche Reaktionen. Entsprechend reagiert unser Körper mithilfe des Nervensystems, um z. B. große Muskelgruppen zu aktivieren, die Herzschlagrate zu steigern und/oder alle der Situation nicht zuträglichen Körperfunktionen zu drosseln. Geht der Körper beispielsweise in den Freeze Modus, fährt das Nervensystem komplett herunter und wechselt in den dissoziativen Modus von Erstarrung, Gefühlslosigkeit und Passivität. Bleibt der Körper in diesem Schockzustand hängen, ob in der Über- oder Untererregung, kann sich eine Traumafolgestörung entwickeln, die auch, wenn die auslösende Situation schon lange zurückliegt, den Schockzustand aufrechterhält und somit ein adäquates Erleben und Reagieren verhindert.


Kann Yoga Traumatisierungen heilen?


Von Heilung spreche ich nicht gerne. Yoga kann unterstützen, begleiten, aufdecken und bewusstmachen. Was heilt, ist der Mensch selbst und nicht das, was von außen kommt. Alles andere sind Impulse, Türöffner, Wegweiser und Unterstützer, um sich selbst näherzukommen oder mit dem, was ist, zurechtzukommen.



Was ist das Besondere an traumasensitivem Yoga? Wo liegt der Unterschied zu einer „normalen“ Yoga-Klasse?


Ein Ausbildungsteilnehmer bezeichnete das traumasensible Yoga mal als das „echte“ Yoga. Es ist wahrnehmungsorientiert, achtsam und fördert die Fähigkeit des inneren Erlebens. Es versucht das Nervensystem zu beruhigen und ist nicht leistungsorientiert. Generell sollte die Wirkung einer Stunde stabilisierend und selbstermächtigend sein. Das bedeutet, dass ich ein ruhiges und überschaubares Setting anbiete. Als Lehrerin bleibe ich auf meiner Matte und zeige die eher einfachen Übungen und praktiziere mit der kleinen Gruppe oder im Einzelsetting. Ich spiegle die physischen Bewegungen, um die Praxis zugänglicher zu machen. Herumgehen und assistieren sind hier kontraproduktiv und haben hohes Trigger-Potential. Meine Sprache ist natürlich, einladend und vor allem optional. Das bekräftigt die eigene Entscheidungsfähigkeit und das Selbstwertgefühl. Zu spüren, was der Körper braucht und dieses dann auszuführen, kann eine wichtige Erfahrung im Kontext von Trauma sein. Generell gilt:

  • Die Asanas werden nicht zu lange gehalten.

  • Beständiger Wechsel – aber nicht zu schnell von der einen zur anderen Haltung.

  • Das Wahrnehmen dessen, was gerade empfunden wird, bedarf Platz zum Nachspüren. Aber auch das sollte nicht zu lange sein und die Übenden dazu verleiten in Gedankenstrudel oder Dissoziation zu kippen.

  • Einige (exponierte) Asanas eignen sich nicht, vor allem, wenn möglicherweise sexuelle Gewalt die Ursache der Traumatisierung darstellt.

  • Ebenso sind Asanas, durch die das Sichtfeld der Übenden eingeschränkt wird, nicht ideal. Betroffene haben gerne den Überblick über die Situation und den Raum. Das bietet Orientierung und Sicherheit.

  • Langes Savasana mit geschlossenen Augen kann zur Tortur werden. Manchmal ist es sinnvoller eine angeleitete progressive Muskelentspannung durchzuführen.

  • Eine kräftige Vinyasa Flow Klasse wäre zu leistungsorientiert und zu unübersichtlich/unkalkulierbar für Menschen mit einer Traumafolgestörung. Die körperliche Herausforderung kann zwar positiv fokussierend wirken und koordinative Schulung darstellen, doch können diese Anforderungen schnell in eine Überforderung münden.


Welche Veränderungen können mit Yoga adressiert werden?


An oberster Stelle steht der Kontakt zum eigenen Körper. Die Fähigkeit sich selbst zu spüren und darauf Einfluss nehmen zu können, kann mit einfachen Yogaübungen wieder erlernt werden. Manchmal ist das Spüren aber riskant. Nicht umsonst bauen sich Muster oder Taubheit um eine negative Erfahrung auf. Diese gilt es behutsam zu erforschen und eventuell aufzubrechen. Die Integration der Gefühle, die hier zum Vorschein kommen, ist Ziel der achtsamen Praxis.


Ein wichtiger Punkt ist die Selbstregulationsfähigkeit. Mit Yoga, Pranayama und Selbstwahrnehmung können Techniken und Hilfestellungen an die Hand gegeben werden, um das eigene System zu regulieren. Diese Tools und das damit verbundene Wissen sind unabhängig von anderen Personen oder Gegebenheiten verfügbar. Der Weg der Selbstwirksamkeit kann somit unabhängig von außen gestärkt und das Vertrauen in sich selbst aufgebaut werden.



Wie kann ich traumatisierte Menschen in einer Yogaklasse erkennen? Womit sollte man vorsichtig sein, wenn man nicht weiß, ob jemand im Raum von einem Trauma betroffen ist?


Mit Blick auf die statistischen Zahlen kann man generell davon ausgehen, dass jemand mit traumatischer Erfahrung im Raum anwesend ist. Offenkundig sichtbar ist das nicht immer. Manchmal zeigt sich eine Schülerin/ein Schüler besonders unsicher oder möchte vorab einige Dinge geklärt wissen. Daraus kann man schließen, dass hier eventuell Trauma-Erfahrung besteht. Die Person braucht dann freundliche Unterstützung, um sich zu orientieren. Es lohnt sich generell auf Sprech- und Verhaltensmuster im Yogakontext zu achten und diese traumagerecht zu gestalten. Wie schnell schleift sich die Grundlage für ein Machtgefälle über die Sprache oder die Art des Unterrichtens ein. Auch Vinyasa-Klassen können mit sorgsam ausgesuchter Sprache für alle unterstützend wirken und Trigger weitestgehend vermieden werden. Motivierende Sprache ist gut und mit einem gewissen Maß an Humor zu untermauern. Optionen tun jedem gut und stärken die Eigenverantwortlichkeit. Ich würde empfehlen Hands on Assists immer erst nach eindeutigem Einverständnis anzuwenden. Bei aller Vorsicht dürfen wir nicht vergessen, dass Menschen mit Trauma-Hintergrund schon viel erlebt und überlebt haben. Sie wissen meistens sehr gut mit nicht idealen Situationen umzugehen. Solange die Lehrerin/der Lehrer authentisch und aus dem Herzen her unterrichtet, kann gar nicht so viel schiefgehen.



Woran möchtest du die Menschen erinnern?


Ich möchte Yoga-Lehrerinnen und -Lehrer für dieses Thema sensibilisieren und ihnen Mut zusprechen, eventuell auch traumagerechte Stunden anzubieten. Der Bedarf ist definitiv vorhanden.




Bitta Boerger übte Ashtanga mit Lehrern wie David Swenson und Maty Ezraty und kreuzte die Welt von Jivamukti. Schließlich vertiefte sie ihr Wissen in Yogatherapie und absolvierte Weiterbildungen in Traumasensiblem Yoga. Heute betreibt Bitta ihr eigenes Yogastudio am Chiemsee und ist Leiterin einer der renommiertesten Yoga-Therapie-Ausbildungen im deutschsprachigen Raum.


Mehr über Bitta Boerger: www.lovelysita.com

Fotos: Josefine Unterhauser (oben) und Mat Kovacic (unten)


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