Schon allein die Asanapraxis wird von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Einer davon ist die individuelle Anatomie des Menschen: Die eine Person kommt mit Leichtigkeit in eine Yogahaltung, die ein anderer Yogi auch nach zehn Jahren nie erreichen wird. Wie wichtig ist anatomisches Wissen für Yogaschüler? Gibt es sowas wie die perfekte Haltung? Wie kann Anatomie im Hinblick auf die Yogaerfahrung greifen, die den Yogi befreit? Woher weiß ich, ob der Knochenbau oder der Geist beschränkt, um in eine Haltung zu kommen? Und warum Eigenverantwortung auf der Yogamatte eine wichtige Rolle spielt.
Timo Wahl im Interview über Yoga & Anatomie

Wie wichtig ist anatomisches Wissen für Yogaschüler?
Der Yogaschüler muss eigentlich nur das Notwendigste wissen um sich nicht wehzutun. In der heutigen Zeit ist der Mensch sehr stark mit dem Denken verhaftet. Je mehr Wissen, desto mehr kannst du in die Bewertung gehen. Somit kann es passieren, dass das Wichtigste in der Yogapraxis, das Gewahrsein und das Fühlen, über zu viel Wissen zu kurz kommt. Es geht viel mehr ums Erleben als ums Wissen.
Welche körperliche Funktion hat die Yogahaltung?
Der Mensch lernt über körperliche Erfahrungen. Wenn wir etwas physisch spüren, können wir einen echten Glauben entwickeln. Die Asanapraxis bringt etwas rein und lässt auch wieder frei. Sie bringt uns in Kontakt mit Kraft, Grenzen, Weichheit und Ängsten. Durch die Yogapraxis geben wir dem Körper einen stabilen Rahmen, indem er funktionieren kann und eine Grundbeweglichkeit, um schmerzfrei durch den Alltag zu kommen. Jede Emotion steckt auch im Körper und diese kann auf diesem Wege wieder herausgelassen werden.
Gibt es in der Asanapraxis so etwas wie die richtige Haltung?
Die richtige Haltung ist für mich, wenn die drei Grundformen erreicht sind. Stabilität und Sicherheit fühlen. Widerstand spüren, ohne den Anspruch daraus zu entwickeln, ihn durchbrechen oder umgehen zu wollen. Und als Konsequenz daraus Weichheit, Raum und Freiheit wahrzunehmen. All das fühlt sich jeden Tag ein wenig anders an.
Welche Rolle sollte die körperliche Ausrichtung in der Praxis spielen?
Ich bin kein Freund von dies ist richtig und das ist falsch. Es gibt lediglich einige anatomische Grundprinzipien. Gelenke sollten nicht gegeneinander verwringen. Raum auf der einen Seite darf nicht zu Druck auf der anderen Seite führen. Für mich gibt es die perfekte Ausrichtung nicht. Ich glaube, dass die Yogapraxis bei einem Mindestmaß an Stabilität ein Maximum an Raum geben sollte.
Wie kann Anatomie im Hinblick auf die Yogaerfahrung greifen, die den Yogi befreit?
Die Anatomie ist ein Puzzleteil von vielen und alles, was wir aus der Anatomie lernen, lässt sich auch mit den unterschiedlichen Bereichen des Lebens verknüpfen. Wenn ich die Anatomie verändere, verändert sich die Physiologie. Wenn sich diese Ebenen verschieben, ändert sich wiederum meine Denkweise und Unterbewusstes. Das wird meine Handlungsantreiber verändern und sich im Bewussten wiederfinden. Die Brücke, die es zu verstehen gilt, ist, dass wir in etwas Größeres eingebettet sind und alles miteinander zusammenhängt. Davon abgeleitet kann eine Yogapraxis, die rücksichtsvoll mit mir ist, genau diese Qualitäten von der Matte nach außen bringen. Die physische Praxis und ein bewusstes und freundliches Umgehen mit mir erweitert sich dann ganz automatisch in mein Umfeld.
Wie bringst du dieses Erleben in deine Yogaklassen?
Wir benennen dies immer wieder und laden dazu ein. Es geht darum, die Yogis daran zu erinnern, sich die Erlaubnis einzuräumen und sich zu fragen: Wie fühlt sich das gerade an? Nimmst du so viel Kraft, dass du stabil bist oder ist es zu viel und bringt Härte rein? Wo kannst du mehr Weichheit zulassen? Wo willst du hin? Ist dein Streben sinnvoll? Wie ist dein Atem? Was passiert, wenn du in den Bauch atmest? Was passt besser zu dir? Kannst du noch mehr ins Fühlen gehen? Bist du in Kontakt mit dem, was du wirklich brauchst?
Einige kommen mit Leichtigkeit in eine Yogahaltung, die eine andere Person auch nach zehn Jahren Asanapraxis nie erreichen wird. Lass uns über natürliche Grenzen sprechen.
Hier spielen zwei Grundparameter eine Rolle. Der eine ist die Gelenkigkeit und der andere ist die erworbene Beweglichkeit. Die Genetik gibt Knochenstruktur, Winkel und Hebel etc. mit. Derselbe Knochen wird bei einem anderen Menschen ganz unterschiedlich aussehen. Ist die natürliche Grenze erreicht, kann man nichts mehr machen. Die erworbene Beweglichkeit hängt wiederum vom Grad des Bewegungsumfanges ab, welche der Mensch in seinem bisherigen Leben erworben hat. Wenn du deinen Körper umformen möchtest, ist hier Spielraum und es braucht nur eine regelmäßige Praxis und eine etwas Zeit. Hier ist darauf zu achten nicht gegen den Widerstand anzukämpfen. Wenn du zu tiefst dehnst und zu viel auf einmal willst, wird dein System hart und du verletzt dich im schlimmsten Fall. Wenn du jeden Tag ein bisschen triggerst, an deine Grenzen gehst und dich an diesen hineinentspannst, stellt sich neue Beweglichkeit ein.
Hier spielt auch die Eigenverantwortung des Schülers eine wichtige Rolle. Wenn du Yoga als einen Weg siehst, musst du schauen, dass es auch wirklich dein Weg ist. Es ist einfach Verantwortung abzulegen. Der Lehrer gibt lediglich Raum, Rahmen und eine Idee. Der Yogaschüler schaut eigenverantwortlich, was er damit macht. Wenn der Lehrer sagt, du sollst dir den Fuß um den Kopf wickeln und der Schüler merkt, dass es nicht geht und es dennoch macht und sich verletzt, liegt es hauptsächlich in der Verantwortung des Schülers.
Warum fühlt sich die selbe Haltung auf deiner linken Seite leichter als auf der rechten Seite an?
Wir sind rechts und links nicht gleich gebaut und der Mensch agiert auch nicht gleich auf beiden Seiten. Jemand, der beispielsweise Tennis oder Golf spielt, ist auf der einen Seite anders ausgelegt als auf der anderen Seite. Unsere alltäglichen Bewegungsmuster haben hier einen großen Einfluss.
Woher weiß der Yogi, ob der Knochenbau oder der Geist beschränkt, um in eine bestimmte Haltung zu kommen?
Wenn es schmerzt, ist es zu viel und der Körper zeigt die Grenze auf. Wenn du dir in deiner Yogapraxis aufmerksam zuhörst, kannst du wahrnehmen, wenn dich der Kopf in die Schranken weist. Er sagt sowas wie: Das geht nicht gut. Das geht gleich schief. Das tut gleich weh. Der Geist beendet die Sache aus einer Angst heraus. Wenn du dieser Gedanken gewahr bist sei liebevoll mit dir. Bleib an der Grenze, an der du bist und beobachte, was passiert. Du musst nicht weitergehen. Aber vielleicht tastest du dich langsam heran und schaust, wie es wirklich weitergeht.
Oftmals ist es der Geist. Das kann man beispielsweise auch in der Meditation beobachten. Nimm dir zehn Minuten vor, dich nicht zu bewegen und nicht zu reagieren. Gib dein Bestes, was du geben kannst und beobachte einfach nur den Atem und alles was sich zeigen mag. In den Yogaklassen kann man beobachten, wie dann der Kopf ins Spiel kommt. Es wird sich an der kribbelnden Nase gejuckt. Der Mensch ist es gewohnt, sofort zu reagieren. Beim Nicht-Reagieren auf die kribbelnde Nase wird es vielleicht erstmal schlimmer und dann löst es sich in den meisten Fällen auf.
Worum geht es aus deiner Sicht im Yoga?
Für die Menschen, die ein „normales“ Leben führen, ist Yoga eine Möglichkeit mit den Widrigkeiten des Alltags umzugehen. Sich Dinge anzuschauen, stehenzulassen und nicht aus allem ein Drama zu machen. Mit sich in Kontakt zu bleiben und mit sich selbst in die Konfrontation zu gehen. Das Tempo des Alltags zu drosseln. Zu hinterfragen, worum es im Leben geht. Wenn du Yoga tiefer betreibst, ist es ein Auflösen des Egos und Ich-Konzepts.
Woran möchtest du die Menschen erinnern?
Selbstfürsorge. Selbstliebe. Freude. Leichtigkeit. Die Grundvoraussetzungen im Umgang mit mir und anderen Menschen.
Timo verbindet seine tiefe Liebe zum Yoga und seine über zwei Jahrzehnte dauernde Lehrertätigkeit mit geballtem Wissen. Sein Herz schlägt für die Yoga-Philosophie und die Interpretation des Yoga Sutra und deren Integration ins tägliche Leben. Er ist Gründer des Studios Timo Wahl Yoga in Frankfurt/Main.
Mehr über Timo Wahl: timowahl.de
Fotos: Timo Wahl

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